Mausgebloggt
Montag, 22. Januar 2007
Meine Reise (nach dem Sturm)
Eine der Hauptbeschäftigungen unseres so jungen, grenzkontrolllosen und doch so politikverdrossenen Europas scheint das Reisen zu sein. Darauf deuten jedenfalls die zahllosen Bahn Card-Angebote und Vielfliegerprogramme und Reiseangebote bei Tchibo, Lidl und Aldi hin. Und so reist die Oma mit ihrem in einem selbst gestrickten Pulli gekleideten Dackel, der schlecht rasierte Student und die schlecht gekämmte Studentin mit ihren zwei Rucksäcken (einer vorne, einer hinten) und dann noch der nervige Manager-Typ, der sich mit seinem in Metzingen erstandenen Boss-Anzug und dem silberfarbenen Trolley-Koffer so wichtig vorkommt...

Ich bin ja auch nicht viel besser. Denn ich reise auch. Vermehrt in letzter Zeit. Das hat man wohl davon, wenn man seinen Hauptwohnsitz ins benachbarte Ausland (Ex-Erbfeinde, Heute Busenfreunde) verlagert.
So fand ich mich vergangene Woche auf dem Hauptbahnhof von Marburg an der Lahn wieder. Ich hatte ein paar schöne Tage in dieser überraschend angenehmen Stadt verlebt und sollte nun die Rückreise antreten.
Unglücklicherweise hatte ich mir dafür ausgerechnet den Tag ausgesucht, nachdem Deutschland kollektiv und vorbeugend dank Orkan ”Kyrill” zum Katastrophengebiet erklärt worden war.

So stand ich also auf dem Marburger Bahnhof, zusammen mit etwa 800 anderen Reisenden (davon geschätzt 750 Studenten), auf einen Zug gen Frankfurt wartend. Um 14:40 Uhr wartete ich simultan auf den 13:49 Uhr und den 14:49 Uhr Regionalzug. Das tat ich auch noch um 15:40 Uhr. Glücklicherweise kam just in diesem Moment, in dem ich mir schon überlegte, wie ich es meinen Chefs erklären sollte, dass ich Morgen nicht zur Arbeit erscheinen könne, da ich immer noch in Marburg auf den (verständlicherweise) verspäteten 13:49 Uhr Regionalzug nach Frankfurt wartete, der InterCity aus Hamburg nach Konstanz vorbei. Der hatte ja nur eine Stunde Verspätung. Das ist nach einem Sturm oder in Indien verzeihbar. (In Frankreich lernt man Geduld... die Sprache übrigens kaum...)
Ich bestieg den Zug. Nicht ganz beförderungstariflichkonform (kann man sich vorstellen, dass mein Korrekturprogramm dieses letzte Wort nicht angestrichen hat?) saß ich also mit meinem Regionalbahnticket für 12,50 Euro im InterCity. Liebe Bahn, tut mir leid. Ich musste auf meinen Flug in Frankfurt. Danke übrigens, dass ihr keinen Schaffner (heißen die Heute noch so?) vorbeigeschickt habt. Aber es war ja auch eine Ausnahmesituation. Das letzte Mal, als ihr so was ähnliches zu bewältigen hattet, habt ihr ja auch noch Reichsbahn geheißen... dafür habt ihr es dieses Mal schon gut gemacht!

So stand ich also neben der Toilette meines Wagons und konnte gelegentlich einen Blich nach draußen erhaschen: ein naher Fluss hatte die Äcker links und rechts des Bahndamms in Reisterrassen verwandelt. Man meinte sich in Asien. Vorbei an Gemeinden. Und Wälder mit umgeknickten Bäumen. Dann wurde die Landschaft entspannter. Sanfte Hügel. Viele Burgen. Über einer Kleingartensiedlung wehte die Reichskriegsflagge.
Neben mir standen zwei wild flirtende Studenten (Reisen verbindet... und die Blondine war g’schmackig) und ein beängstigend leicht geistesgestörter Schnauzbartträger in schwarzer Lederjacke, der in einer Art Balkan-Kauderwelsch sprach.

In Gießen bekam ich einen Sitzplatz. So voll war der Zug am Ende gar nicht. Gut so. Oder schade. Irgendwie hatte ich mir eine Szene wie in alten Kriegsfilmen mit lauter verzweifelten Menschen auf dem Bahnsteig ausgemalt.
Allerdings bot ich meinen Platz natürlich sofort einem älteren Herrn mit übergroßen Hörgerät an. Man ist ja so erzogen worden. Man hat ja noch Anstand. Oder so ähnlich.
Doch: der Alte lehnte ab. Mehrmals. Drei Mal fragte ich nach. Drei Mal sagte er Nein. Irgendwann lässt man es dann auch. Ein anderer Mitzwanziger mir schräg gegenüber (mir gefiel seine Tasche) versuchte es auch. Ebenfalls ohne Erfolg.
Schließlich stand ein Mitdreißiger einfach auf und deutete dem Alten ohne Widerrede zu akzeptieren (er hatte seinen iPod im Ohr), den Platz doch gefälligst zu nehmen.
So macht man es also... Ich hoffe mit Mitte Dreißig auch so weise zu sein. Allerdings besser frisiert als der Typ...

Der Zug rollte nach Frankfurt, das ich nicht mag. Die Stadt gibt sich so blöde modern und berauscht sicht an seinen Börsenmaklern, Eventagenturen, Messen und daran, Wolkenkratzer zu haben. Ich stell mir immer vor, was wohl nach Frankfurt kommenden New Yorkern oder Shanghainesen denken mögen. Ich gehe mal von ”Ach, wie niedlich!” aus...
Aber Frankfurt mag ich auch deshalb nicht, weil es mich so sehr an ein paar ehemalige Professoren von mir erinnert, die hier wohnen und hierhin so sehr zu passen scheinen. Der eine unterrichtete Marketing und der andere alles mögliche Betriebswirtschaftliche. Beides so Möchtegern-Elite-Typen. Das ist Frankfurt für mich.

Der Bahnhof ist allerdings hübsch. Cool zum Umsteigen. Nur der S-Bahhnhof am Stadion scheint mir in der Post-WM-Zeit überdimensioniert...

Ich schaffte es jedenfalls zum Flughafen Rhein / Main oder auf Neudeutsch: zum Fraport.
Einchecken läuft da auch schon supermodern. Früher musste man ja noch tatsächlich mit Menschen reden. Iiiiihhhh... Heute hat mein kleine Automaten, die dank meiner Kreditkarte erkennen wer ich bin und welchen Flug ich gebucht hab. Sogar meine Nummer des gerade erst beantragten Vielfliegerprogramms kann ich da eingeben. Wie toll. Und mein Flugticket krieg ich prima und sofort ausgedruckt.
Nur mein Gepäck, das muss ich noch bei einer echten Person aufgeben. Aber ich bin mir sicher, dass wir die bald auch nicht mehr sehen müssen. Der BWLer in mir jubelt, der Humanist heult.

Ich sitze noch eine Weile dort, wo ich immer in Frankfurt lande: beim McDonald’s im Terminal Zwo. ”Hüttenzauber” herrscht da angeblich. Irgendwie schwer vorstellbar, so mit gigantisch verglaster Aussicht auf das Flugfeld... dafür bringt mir die nette Dame von der Theke meinen ”McKäs” (wer lässt sich eigentlich diese Namen einfallen?) direkt an meinen Tisch...
Auf der Toilette daneben bewundere ich dann wieder die rhetorischen Fähigkeiten von Vorschulkindern. Ein kleiner Junge (Zitat): ”Musst du auch ein bisschen kacken?”
Poesie.
Vor allem wenn man gerade auch dabei ist, zum Papier zu greifen...

Der Flug verlief wunderbar. 45 Minuten Rollfeld. 45 Minuten Flug. 45 Minuten Rollfeld. Herrlich wie schnell und problemlos das doch alles geht. Fliegen... super. Dazu muss man nur ne Stunde vorher am Flughafen sein und noch danach 30 Minuten auf sein Gepäck warten. Geht ja alles so schnell. (Das ist ich faktisch mit dem Zug genauso lang gebraucht hätte, ist doch Nebensache, oder?)
Ich war mittlerweile etwas müde. Und daher grantig. Der kleine Lucas vor mir, der die mit Klettverschluss befestigten Haarschuppenfänger von den Sitzen riss war ja noch ganz süß, aber die Gruppe besoffener, schwäbischer Männer hinter mir kostete doch Nerven, die mir allmählich ausgingen. Ich konnte plötzlich nachvollziehen, warum mein Heimatdialekt von vielen als störend empfunden wird. (Obwohl: im Norden scheint sich jeder über ”Grüß Gott” aufzuregen während das grauenvolle ”Tschööö” keinen auf die Barrikaden jagt... diese Deutschen...)

Sechs Stunden nachdem ich in Marburg aufgebrochen war, kam ich am Aéroport Charles de Gaulle an. Ich hatte mein Gepäck. Und der Flughafenshuttle, für den ich ein Ticket hatte, sollte zwei Stunden später fahren. Super. So würde ich auch noch meinen lokalen Bus verpassen. Vor halb eins wäre ich so nie zu Hause gewesen. Am folgenden Tag sollte ich arbeitsbedingt um 7 Uhr geduscht und rasiert die Wohnung verlassen.
Ich trabte rüber zum Fernbahnhof. Man sagte mir, dass der französische Superzug TGV nur knapp zehn Minuten zu mir brauche. Auch wenn er 20 Euro kostete... also rüber zum Bahnhof. Und in der Tat: der TGV braucht wirklich nur knapp zehn Minuten. Ich hätte auch den nächsten nehmen können. Der fuhr drei Stunden später...
Also zum Regionalbahnhof nebenan. Wollte ich eigentlich, da der Regionalzug ewig braucht. Da irgendwer vergessen hat, um Paris rum eine Bahnstrecke zu bauen muss ich für eine Strecke von 40 Kilometern 120 zurücklegen, da ich erst in die Stadt rein und dort umsteigen muss. Auch war ich zu blöd den Automaten zu bedienen, so dass ich in Paris noch mal ein Ticket lösen musste.

Ich war hundemüde. Was sich auch an meiner Playlist-Auswahl ablesen lässt: am Flughafen wählte ich noch die Jazz-Künstlerin Madeleine Peyroux, die auch noch etwas fröhlicher kann, danach kam Katie Melua und schließlich und endlich wählte ich Sarah McLachlan, die man nun wirklich nur zum Einschlafen hören kann (am besten mit einer sexuell kompatiblen Person in unmittelbarer Nähe...).

Ich kam um halb zwölf nach Hause. Ich hatte eine Stunde am Bahnhof in Marburg gewartet, eine Stunde mit dem Intercity und der S-Bahn zum ”Fraport” gebraucht, zwei Stunden dort gewartet, anderthalb Stunden im Flieger verbracht – und dann drei Stunden im Großraum Paris in Nahverkehrsmitteln verbracht....
Ist Reisen nicht was Schönes?

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Sehr schön!
Odysseen liest man doch immer wieder gerne :-)

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Und dabei...
... könnte ich eigentlich einen Lektor ganz gut gebrauchen... und versprochen: die nächste Odyssee kommt bestimmt!

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Den Lektor
gibt's wenn du deine gesammelten Erlebnisse als Buch rausbringst.

In der Zwischenzeit gibt's von mir einen Lesenswert-Link: http://www.lebenoderso.de/2007/01/odyssen.htm :)

link


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